Symposium des Bezirks Niederbayern zu gestiegenen Fallzahlen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit hochkarätigen Experten
„Versorgung, Prävention, Perspektiven“ – unter diesem Titel stand das Symposium der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor kurzem am Bezirksklinikum in Mainkofen. Damit hat der Bezirk Niederbayern auf die drastisch gestiegenen Fallzahlen von psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen reagiert, die psychiatrisch und psychotherapeutisch versorgt werden müssen. Die hochkarätigen Referenten hatte Dr. Tanja Hochegger, stellvertretende Ärztliche Direktorin und Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus Landshut, eingeladen. Der Bezirk hatte mit dem Thema einen Nerv getroffen: Der Besucherandrang und der Wissensdurst waren groß. Mit dabei waren auch Vertreter von Polizei, Familiengerichten und kooperierenden Einrichtungen.
Der Bezirk Niederbayern hat sich in den vergangenen Jahren bereits auf den Weg gemacht, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Gleichzeitig waren in ihrem Haus umfangreiche strukturelle Veränderungen nötig, die oberste Priorität hatten, verdeutlichte Dr. Tanja Hochegger. Als sie 2020 das Ruder der Klinik übernahm, war diese zuvor ins Kreuzfeuer der Kritik geraten: Eine ungewöhnlich hohe Zahl von freiheitsentziehenden Maßnahmen von minderjährigen Patienten machten Negativschlagzeilen. „Wir hatten einen Reformauftrag“, blickte Dr. Hochegger zurück und gab einen Einblick, was sie mit ihrem Team verändert hat.
Oberste Priorität ist es, den Akutbereich der Klinik so definiert und spezialisiert wie möglich zu halten. Der Patientenfluss wurde optimiert. In mehreren Schritten wurde erreicht, dass die Aufnahme von Patienten grundsätzlich durch alle Stationen möglich ist. Die Akutstation wurde in zwei Bereiche aufgeteilt – in einen kleineren geschützt geführten Bereich und eine offene Krisenstation für Jugendliche sowie Plätze für die Jüngeren auf einer fakultativ geschützt geführten Kinderstation. Zudem habe man sich so aufgestellt, dass auch eine Akutaufnahme der Jüngsten unter Einbeziehung des Umfeldes ad hoc tagesklinisch erfolgen kann. Warum dies fünf Jahre dauerte, beantwortete Hochegger gleich selbst: „Uns haben die Aufnahmezahlen erschlagen.“ Die Aufnahmen im Notdienst hätten sich nahezu verdoppelt. Sie äußerte gleichzeitig aber auch Verständnis für die Polizei, sich bei fehlenden alternativen Strukturen im Notfall als Erstes an ihre Klinik zu wenden. Weitere Maßnahmen wie definierte Standards und externe Fortbildungen hätten dazu geführt, dass die Fixierungen mittlerweile um 70 Prozent zurückgegangen sind. Dennoch bleibt nach ihren Worten die Situation herausfordernd, da es immer mehr Fälle und nur beschränkte Kapazitäten gibt.
Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich bekräftigte die angespannte Situation. Es sei ein Thema, das unter den Nägeln brenne – das zeige auch der gute Besuch der Veranstaltung. Die sozialen Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie hätten wie ein Katalysator gewirkt. „Aber auch jetzt kann man nicht sagen, dass sich die Zahlen auf einem normalen Niveau eingependelt haben.“ Zudem gebe es viele weitere Faktoren, die für Beunruhigung sorgen – zum Beispiel den Ukraine-Krieg. Und auch im schulischen Bereich wachsen der Druck und die Anforderungen an junge Menschen. Achtzig Prozent aller Aufnahmen kommen als Notfälle, bilanzierte der Bezirkstagspräsident. Die vollstationären Aufnahmen seien um 86 Prozent gestiegen. Dabei sei die Personalsituation enorm angespannt und es sei eine große Herausforderung, die Stellen adäquat zu besetzen.
Auch Privatdozentin Dr. Katharina Bühren, Ärztliche Direktorin kbo-Heckscher Klinikum, unterstrich, dass die Corona-Zeit psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen verstärkt hat. Sie hatte aktuelle Zahlen parat: 60 Prozent aller jungen Menschen geben an, schon einmal unter einer psychischen Belastung gelitten zu haben. Ein Brennglas sei aber nicht nur die Pandemie gewesen, sondern auch der Anstieg der Nutzung von sozialen Medien: „Pathologischer Medienkonsum kann eine Depression nach sich ziehen.“ Stationäre Behandlungen hätten enorm zugenommen. Auch Bühren bekräftigte, dass ein hoher Prozentsatz notfallmäßig aufgenommen werden muss: „Dabei legen wir die Latte sehr hoch.“ In den Ferien gebe es weniger Notfälle als in der Schulzeit. Die Verweildauer gehe nach unten, ganz einfach, um die vielen Fälle zu bewältigen. Die Ärztliche Direktorin sprach sich klar für eine Ambulantisierung als Lösungsmöglichkeit aus, wenn denn die Strukturen ausreichend ausgebaut sind. Zudem brauche es innovative Behandlungskonzepte, PPP-RL-Sanktionen (PPP-RL: Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie) müssen überdacht und die Versorgungskonzepte sektorenübergreifend ausgebaut werden.
Eine Lanze für die Prävention brach Prof. Dr. Marcel Romanos, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Würzburg. Eine effektive Versorgung sei die beste Prävention, machte er klar. Es gelte, die Resilienz der Kinder zu fördern: „Wir machen sie stark.“ Romanos stellte unterschiedliche Konzepte zur Prävention vor. Er erklärte: „Wir wollen Emotionen nicht verhindern, wir wollen wie ein Surfer auf der Welle reiten und nicht überspült werden.“
Prof. Dr. Jens Pothmann, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut e. V. (DJI), gab einen Überblick über die Zahlen zur Heimerziehung. Dabei kommen die meisten der insgesamt rund 128.000 betreuten Kinder aus prekärem Umfeld. Kinder- und Jugendhilfe sei ein Feld, das effektiv unterstützt werde. So würden hierfür 2023 rund 72 Milliarden Euro investiert. Pro Fall steigen die Ausgaben kontinuierlich an. Auch Pothmann nannte den Fachkräftemangel als großes Problem. Viele Kräfte gehen seinen Worten nach zudem bald in Rente.
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Landshut ist die Fachkräfteweiterbildung ein wichtiges Argument, um die pflegerischen und pädagogischen Mitarbeiter für die steigenden Herausforderungen zu qualifizieren. Wie diese geplante Ausbildung aussieht, stellte stellvertretende Pflegedirektorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Eva Siebel vor. Viele Beschäftigte hätten in ihrer Pflegeausbildung wenig Berührung mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie, erklärte sie. Es brauche aber Kenntnisse, um mit extremen Situationen umzugehen. Deshalb wurde ein Basis-Grundkurs von 88 Einheiten mit Inhalten wie Grundlagen von Recht, Ethik und Kommunikation entwickelt. Dazu gibt es Vertiefungsmodule, zertifiziert von der BAG Pflege.
In einer Podiumsdiskussion, die Prof. Dr. Hermann Spießl, Ärztlicher Direktor am Bezirkskrankenhaus Landshut, moderierte, äußerte Prof. Dr. Pothmann den Wunsch, dass sich die sozialpolitische Lage von Familien in den nächsten fünf Jahren verbessert: „Das würde das System entlasten.“ Prof. Dr. Romanos erklärte, ohne die Ausweitung von Prävention in der Fläche seien die Probleme nicht zu bewältigen. Dabei sei der Ausbau der ambulanten Versorgung unverzichtbar, um die Kliniken zu entlasten.
Bildunterschrift: Diskutierten über Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe (v.l.): Bezirkstagspräsident Dr. Olaf Heinrich, Prof. Dr. Jens Pothmann, Dr. Tanja Hochegger, Eva Siebel, Dr. Marcel Romanos, PD Dr. Katharina Bühren und Moderator Prof. Dr. Hermann Spießl.
Foto: Bezirk Niederbayern, Korbinian Huber




